Beten – loslassen und empfangen

Loszulassen ist eine urmenschliche Erfahrung, die früher oder später an uns herantritt. Wir zügeln, verlieren einen lieben Menschen oder geben altershalber den Führerschein ab. In jedem Fall geben wir etwas her. Manchmal tun wir es freiwillig. Oft werden wir jedoch nicht gefragt, Dinge, Orte oder Menschen aus unseren Händen zu geben. Wir werden gezwungen. Durch Alter, Krankheit oder Tod. Solche äusseren Schritte und Schnitte müssen von uns innerlich bewältigt werden. Wie machen wir das?

von Daniel Zindel, Gesamtleiter und theologischer Leiter SGh

Wir erfahren uns aber auch als Empfangende: Wir verlieben uns neu. Wir finden unverhofft einen Job. Wir machen eine Erbschaft. Eine geistige Welt tut sich uns auf. Wir entdecken ungeahnte Seiten an unserem Partner oder an uns selbst. Manchmal haben wir sehnsuchtsvoll aufs Neue gewartet, ja darauf hingearbeitet. Gelegentlich werden wir aber auch völlig überrascht und stellen staunend fest, dass unsere Hände neu gefüllt wurden. Auch das muss innerlich bearbeitet werden, weil man vor lauter Glück und plötzlichem Neuen auch aus dem Häuschen geraten kann. Herman Hesse beschreibt in seinem Gedicht «Stufen», dass jeder Mensch zum Loslassen und Empfangen bereit sein soll:

Loslassen und empfangen - wie ein Dichter es beschreibt

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“[1]

[1] Loslassen und empfangen oder Hesses Aufbruch, Reise und Neuanfänge sind kein oberstes Prinzip. Wo das Leben gelingt, lassen sie sich ergänzen durch Verbindlichkeit, Treue und Bleibe. Alles hat seine Zeit.

In Tapferkeit und ohne Trauern heiter Raum um Raum durchschreiten

Auf den ersten Blick scheint der Dichter ein Übermensch zu sein. Er streift jede Lebensphase wie ein Kleid ab. Wie ein Gutsherr tritt er heiter und gelassen in einen neuen Lebenskreis. Loszulassen und zu empfangen, ist das für ihn ein natürlicher, schmerzloser Prozess? Ist das denn so einfach, bei jedem Lebensruf zu Abschied und Neubeginn bereit zu sein? Es scheint fast so. Wenn wir jedoch Hesse‘s Gedicht näher unter die Lupe nehmen, ist es auch für den Dichter kein Sonntagsspaziergang. Er muss sich zwingen: „Es muss das Herz bereit sein, Altes loszulassen und Neues zu empfangen. Offenbar bockt und sträubt sich auch etwas in diesem heroischen Dichter. Er muss sich einen Schubs geben: Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten. Schon wieder so ein Imperativ. Müssen. Sollen. Offenbar fällt es auch dem Dichter nicht so einfach, los zu lassen und zu empfangen. Spätestens in seinem letzten Satz bringt er es auf den Punkt: Wer loslässt, erfährt einen Trennungsschmerz. Es tut weh, wie bei einer Krankheit. Scheiden tut weh. „Nimm Abschied und gesunde!“

Auch Neues, das wir empfangen oder selbst beginnen, ist oft mit inneren Erschütterungen und Verunsicherungen verbunden: „Aller Anfang ist schwer“, auch wenn ihm vielleicht ein Zauber innewohnt, „der uns beschützt und uns hilft, zu leben.“ Auch unsere Neuanfänge müssen innerlich bewältigt werden.

Beten als Weg zum inneren Halt

Natürlich sind es Menschen, allen voran unsere Familien und Freunde, die uns in solchen Übergangskrisen helfen. „Wir alle werden getragen durch den äusseren Halt an der Gemeinschaft“, sagt der grosse Heilpädagoge Paul Moor. Dazu kommen unsere Netzwerke, gute Prozessgestaltungen und Strukturen.

Paul Moor spricht aber auch vom „inneren Halt“, zu dem er auch die Spiritualität zählt. Das Gebet ist eine Möglichkeit, nach seelischen Erschütterungen durch Leid- oder Glückserfahrungen, unser Gleichgewicht wieder zu erlangen. Das Gebet ist eine Art „geistliche Copingstrategie“ von uns Menschen, also etwas, das wir tun können. Wir sind aktiv. Wir beten. Im Gebet entsteht aber auch Raum für Gottes Handeln an uns. Wir sind dann passiv. Gott wirkt. Wir werden beschenkt und ahnen plötzlich seine „göttliche Copingstrategie“ mit uns Problemkindern: Es ist, als ob unser Beten einen Hahn öffnete, durch den Gottes Gnade tropft und träufelt. Ja manchmal öffnet das Gebet förmlich eine Schleuse und Gott flutet uns mit seiner Liebe, Fürsorge und seinem Segen.

Geheimnis Gebet: Versuch, einen schwer beschreibbaren Prozess in Worte zu fassen

Das Gebet ist letztlich ein Geheimnis. Das Beten ist innere Zwiesprache mit seinem Herzen und seinem Gott. Was passiert da genau? Das ist nicht einfach zu beschreiben, weil es bei jedem Menschen wieder anders ist. Es besteht aus einem Prozess, der im Minimum aus drei Schritten besteht: 1. Ich nehme wahr, was in meinem Inneren abgeht. 2. Ich artikuliere meine Gedanken und Gefühle und adressiere sie an Gott. 3. Ich erwarte schliesslich einen Impuls von Gott her auf das, was ich ihm gesagt habe.

Ich versuche im Folgenden, diesen Prozess des Betens näher zu entfalten. Dabei liste ich beispielhaft biblische Erfahrungen oder Aussagen von Menschen auf, die ich begleitet habe, um diesen Gebetsprozess des Loslassens und Empfangens plastisch zu machen.

Selbstwahrnehmung

Hier nehmen wir zunächst achtsam wahr, was in unserem Innersten abgeht.

Loslassen:

  • „Ich bin traurig. Es schmerzt unendlich.“
  • „Ich bin von Wut erfüllt – das wurde mir einfach so aus der Hand geschlagen.“
  • „Es ist ungerecht, das habe ich nicht verdient!“
  • „Wenn ich gewusst hätte, wie schwer das ist, hätte ich diesen Schritt nie im Leben gemacht.“

Empfangen:

  • „Wunderbar – womit habe ich das verdient?“
  • „Kann ich so viel Glück auf einmal handhaben?“
  • „Kann ich dem trauen?“
  • „Werde ich dem gerecht?“

Seelischen Inhalten Sprache geben und sie an Gott adressieren

Wir geben dem, was in uns abgeht, eine Sprache. Wir formulieren Worte, durch die wir unsere Gedanken oder Gefühle zu Gott hin transportieren. Vielleicht ist es uns auch eine Hilfe, unsere Gedanken oder Emotionen in ein vorformuliertes Gebet zu legen. Die Psalmen etwa eignen sich vorzüglich dazu.

Loslassen:

  • „Du, mein Gott, es tut so weh, dies loszulassen. Es ist als wär‘s ein Stück von mir.“
  • „Wie lange, Herr, willst du mich ganz vergessen? Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen Tag für Tag?“[1]
  • „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“[2]
  • „Ich habe ja gar keine andere Wahl, aber ich wähle, diese Sache bei dir loszulassen.“

Empfangen:

  • „So viel unverdientes Glück, du mein Gott, ich danke dir.“
  • „Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land, mir ist ein schönes Erbteil geworden. Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat.“[3]
  • „Ich danke dir mein Gott über diese grosse Gabe. Ich habe Respekt vor der Aufgabe, die damit verbunden ist.“

 

[1] Psalm 13. 2-3
[2] Matthäus 26. 39
[3] Psalm 16. 6-7, Luther

Gottes Wort empfangen

Beten ist kein Monolog. Das Sprechen zu Gott wird abgelöst vom Hören auf ihn. Dazu braucht es Stille, Sammlung und Übung. Was wir bei einer solchen empfänglichen Haltung „hören“ und bekommen, sind Eindrücke. Bei mir bleibt oft eine letzte Unschärfe zurück, ob ich jetzt intuitiv auf mein Inneres gehört oder von Gott als meinem Gegenüber angesprochen worden bin. Gott spricht vielfältig zu uns: durch andere Menschen, Umstände, Stimmungen und Phänomene in der Natur. So wie jeder von uns im zwischenmenschlichen Bereich seine Liebessprache kennt, auf die er oder sie vom Partner her ansprechbar ist, so sind wir auch im geistlichen Bereich jeder auf seiner Frequenz von Gott her erreichbar.

Gott spricht viele Sprachen, seine Muttersprache jedoch ist die Bibel. In und mit dem Lesen unserer Bibel kann Gott ein Wort oder Wörtchen mit uns sprechen, wenn wir ihn dazu einladen.

 

Loslassen:

  • „Du bist nicht allein. Ich bin da und gehe mit dir Schritt für Schritt.“
  • „Für heute gebe ich dir die Kraft, dass du durchkommst. Nur für heute. Morgen ist ein anderer Tag.“
  • „Und ich werde euch die Jahre erstatten, die die Heuschrecke gefressen hat.“[1]

Empfangen:

„Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht?“[2]

„Ich führe dich jetzt in neues Land. Ich werde dich bewahren und du hast dich darin zu bewähren.“

„Ich habe eine Zukunft und Hoffnung für dich bereit, auch wenn du im Einzelnen nicht weisst, wie es herauskommen wird.

[1] Joel 2. 25
[2] Jesaja 43. 19

Walking out the healing

„Steh auf, nimm deine Bahre und zeig, dass du gehen kannst!“[1] Unsere inneren (Gebets)Prozesse müssen sich im Alltag bewähren. Wir setzen das spirituell Erfahrene in kleinen Schritten um. Rückschläge und stolpern gehören dazu wie bei einem Kind, das laufen lernt. Wir zählen dabei die Schritte, nicht die Stürze.

[1] Johannes 5. 8