Gemeinsame Biografiearbeit
Spontan und spielerisch geschieht gemeinsame Biografiearbeit viel häufiger, als wir denken. Es ist, wie wenn aus den vielen verschiedenen Beiträgen ein Puzzle entsteht, das die gemeinsam erlebte Geschichte abbildet, nacherzählt, vielleicht sogar in einem neuen Licht erscheinen lässt.
An einem Familienfest, an einem Treffen ehemaliger Mitarbeitenden, an einer Klassenzusammenkunft. Dann werden Geschichten und Anekdoten erzählt. Lustiges, Abenteuerliches oder Peinliches kommt aufs Tapet. «Weisst du noch?» Es wird viel gelacht. Manchmal entstehen kurze Pausen der Betroffenheit. «Heute können wir darüber lachen, aber damals …» Es ist, wie wenn aus den vielen verschiedenen Beiträgen ein Puzzle entsteht, das die gemeinsam erlebte Geschichte abbildet, nacherzählt, vielleicht sogar in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Was passiert, wenn wir so austauschen?
Wir rufen Vergessenes in Erinnerung. Die Vergangenheit lebt auf. Wir erzählen eine Episode und merken, wie wir dasselbe Ereignis aus unseren verschiedenen Perspektiven eventuell ganz anders wahrgenommen haben. (Unsere vier Kinder hatten einmal von uns Eltern aus der gemeinsamen Kindheit so unterschiedlich erzählt, dass ich mich fragte, ob sie dieselben Eltern gehabt hatten.) Beim gemeinsamen Erzählen kommt auch Vergessenes und Verdrängtes ans Licht. «Daran habe ich gar nicht mehr gedacht!» Durch den gemeinsamen Austausch sehen wir dann manches plötzlich in einem anderen Licht. «So wie du die Dinge siehst, darauf wäre ich von allein nicht gekommen.» Durch das gemeinsame Erzählen reflektieren wir unsere Geschichte. Wir verstehen sie besser. Denn ein Geschichtsbild besteht nicht nur aus «Facts und Figures», sondern auch von der Interpretation und der Bedeutung, die wir diesen Fakten gaben – und eben dann auch neu zuschreiben können.
Strukturiertes Erzählen und bewusstes Bearbeiten
Gemeinsame Biografiearbeit kann auch geplant und strukturiert ablaufen. Wir haben das gemeinsam in den Retraiten der Stiftung Gott hilft getan, an denen in Staffeln je ca. 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilgenommen hatten. Folgende Voten wurden nach der gemeinsamen Biografiearbeit abgegeben: «Ich erlebte Verbundenheit. Wir-Gefühl, Nähe und Geborgenheit. Verständnis für Dinge und Menschen. Ich erlebte Freude und fühlte mich näher am Leben. Inspiration. Eine erweiterte Sicht unserer gemeinsamen Biografie. Mir wurden unsere gemeinsamen Werte und die ideologische Einigkeit bewusst. Mir ging es umgekehrt, ich entdeckte unsere Vielfalt! Ich konnte aufatmen, weil wir ehrlich waren und Gutes und Schwieriges benennen konnten. Kostbar. Mit meiner Wahrnehmung hatte ich Platz in der Gemeinschaft. Lachen und lustige Erinnerungen teilen.»
Die vier Schritte der Biografiarbeit
Es bewährt sich, in der gemeinsamen Biografiearbeit in vier Schritten vorzugehen.
Persönliche Vorbereitung:
Wir nehmen uns als Paar, Team, Gemeindeleitung, Institution bewusst vor, unsere gemeinsame Geschichte anzuschauen und aufzuarbeiten. Wir müssen dafür eine innere Überzeugung bekommen. Diese wächst wie der Appetit, der mit dem Essen kommt, wenn jede und jeder sich darauf vorbereitet.
Vielleicht mit folgenden Fragen:
- Was sind meine persönlichen Highlights aus unserer gemeinsamen Geschichte? Wofür bin ich dankbar, wenn ich an unseren gemeinsamen Weg denke?
- Was hat in unserem Miteinander Sinn gemacht? Was genau war das Sinnstiftende? – Übrigens, das Thema des biografischen Arbeitens ist immer auch, Sinn zu entdecken, Sinn zu suchen und Sinn zu geben.
- Gibt es Tiefpunkte? Was war schwierig, allenfalls verletzend? Ist noch ein «Stachel» zurückgeblieben? Gibt es ein Thema aus unserem gemeinsamen Miteinander, wo ich mich noch aussöhnen muss?
- Was habe ich aus unserem gemeinsamen Unterwegssein alles gelernt? Wo bin ich an dir oder euch gewachsen?
- Wann, wo und wie habe ich in all dieser Zeit Gottes Güte, Trost und Hilfe erfahren und wo schien er mir abwesend und schweigend?
- Wo könnte in unserem Miteinander etwas Neues entstehen? Was ist schon am Spriessen? Was gilt es neu zu lernen? Wo müssen wir uns weiterbilden?
Austausch:
Aus dieser Vorbereitungszeit kommen wir dann zusammen und tauschen gegenseitig aus. Es ist hilfreich, wenn der Aus-tausch von einer reifen Person moderiert wird, damit alle Teilnehmenden geschützt, unterstützt und ermutigt werden. Es braucht für das Gespräch auch einige Spielregeln wie etwa: «Wir tauschen auf der Basis einer barmherzigen und ehrlichen Grundhaltung aus. Wir sprechen über uns und nicht über den andern: ‘So habe ich das erlebt und so habe ich das empfunden.’ Wir machen uns bewusst, dass das Gesagte nicht die volle Wahrheit, sondern meine persönliche Wahrheit und meine subjektive Realität darstellt. Was wir sagen, bleibt unter uns. Wir sind uns bewusst, dass in diesem Austausch etwas sehr Kostbares stattfindet, zu dem jede und jeder einen Bei-trag haben wird.»
Verarbeitung:
Im Anschluss an den Austausch können wir das bearbeiten, was wir gehört und gesagt haben. Für diese Aufarbeitung braucht es etwas Fantasie, erwachsenbildnerische Kompetenzen und auch die nötige Zeit, einen guten Ort und das richtige Material dazu.
Z.B. könnte jede und jeder seinen Dank aufschreiben und in eine Dankschale legen oder als Frucht an einen Zweig hängen. Auch Schwieriges und Schmerzliches können wir in einer Symbolhandlung ablegen. Lernerfahrungen könnten in einem Tagebuch festgehalten und das Neue, das am Entstehen ist, in konkreten Umsetzungsschritten festgemacht werden, vielleicht visualisiert in einem Samen, den man setzt.
Zur Bearbeitung des Austausches, der Schönes und Schwieriges auf den Tisch gebracht hat, eigenen sich für Menschen mit einem Glaubensbezug vorzüglich gottesdienstliche Elemente. Wir bringen etwa in Dankgebeten und Lobpreis unseren Dank für die gemeinsame Ge-schichte vor Gott. Wir heften vielleicht Schwieriges und Schmerzliches an ein Kreuz. Jemand spricht ein Bussgebet. Jemand spricht der Gemeinschaft Vergebung und Heilung von Verletzungen zu. Die Teilnehmenden sind frei, innerlich so mitzugehen, wie sie möchten. Die Feier des Abendmahls könnte ein weiteres Element sein. Nun sind es nicht wir, die verarbeiten, sondern Gott, der an uns und unserer Gemeinschaft arbeitet. Wir segnen Schritte der Veränderung und Weiterbildung, die möglicherweise anstehen.
Nachbearbeitung:
Möglicherweise wird es nach einer gemeinsamen Biografiearbeit Themen geben, die aufgenommen werden müssen: Vielleicht braucht es noch «bilaterale» Klärungen von Teammitgliedern. Konflikte müssen sorgfältig gelöst werden, aber dazu ist jetzt der Boden des Vertrauens gelegt worden. Vielleicht zeigt sich als Folge des gemeinsamen Rückblicks, dass die Leitungsverantwortlichen für die Zukunft personelle oder strukturell- systemische Veränderungen angehen sollten.
Früchte der gemeinsamen Biografiearbeit
Dankbarkeit
Gemeinsame Biografiearbeit macht uns dankbar für unsere gemeinsame Geschichte, für das, was wir gemeinsam geleistet und uns geschenkt worden ist. Wir entwickeln dankbar einen Respekt für die, die uns vorangegangen sind. Sie haben gesät und wir dürfen heute ernten. Diesen Dank können wir einander und Gott gegenüber zum Ausdruck bringen. Aus der Hirnforschung wissen wir, – auch wenn die Ereignisse, für die wir dankbar sind, jahrelang zurück liegen -, dass es erneut Glücksgefühle auslöst, wenn wir nach Jahren nochmals Danke sagen. Es tut einer Gemeinschaft gut, wenn man gemeinsam auf Spurensuche nach dem gemeinsamen Glück geht. Alles ist immer auch ein Geschenk. Das heilt eine Gemeinschaft von einer Anspruchshaltung, wo man meint, ein Anrecht auf Glück zu haben. Es stärkt eine Gemeinschaft ungemein, wenn wir insbesondere die Lern- und Wachstumserfahrungen aneinander und miteinander in Dank ummünzen.
Stärkung der Identität
Wenn wir unsere gemeinsame Geschichte aufleben lassen, stärkt das unser Gemeinschaftsgefühl und unsere Identität. «Das sind wir!» Es wird uns neu bewusst, woher wir kommen und wer wir sind. Es ist gut, als Gemeinschaft seine Wurzeln zu kennen und zu pflegen. Never forget where you come from!
Von (gemeinsamer) Schuld und Scham frei werden
Kein Paar, keine Familie, kein Hauskreis, kein Land ist einfach nur Stolz auf die eigene Geschichte! Eine Gemeinschaft hat möglicherweise auch ihre Tabuthemen und dunklen Kapitel, die ans Licht müssen. Es wirkt sehr befreiend, heikle Punkte einer gemeinsamen Biografie an- und auszusprechen. «Ja, da haben wir uns auf unserem gemeinsamen Weg aufgerieben. Dafür schäme ich mich. «Scham und Beschämung ist eine soziale Wunde und kann nur durch sozialen Balsam im gemeinsamen Gespräch geheilt werden». Gerade wenn wir über unsere Beschämung zu erzählen beginnen, verliert sie an Macht. Wenn wir als Gemeinschaft über vergangene Fehler und schwierige Dinge Klartext reden, kann uns das auch davor bewahren, diese zu wiederholen. Denn was wir vergessen oder verdrängt haben, wiederholt sich.
Geistlich gesehen bringt es der Johannesbrief auf den Punkt: «Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit» (1. Johannes 1. 9). So wie jeder Organismus braucht auch jede Organisation einen «Verdauungsapparat», um Schadstoffe auszuscheiden. Nicht dass in unserem Miteinander Schadstoffe entstehen, ist das Problem. Wo gehobelt wird, fliegen Späne. Das Problem ist, wenn Schadstoffe nicht ausgeschieden, sondern sich in unserem Miteinander einlagern.
Sich der gemeinsamen schwierigen Geschichte als Paar, als Familie, als Team oder Institution zu stellen, heisst immer auch, sich der gemeinsamen, systemischen Schuld der gemeinsamen Geschichte bewusst zu werden. Diese kollektiv zu bekennen und von Gott dafür Vergebung zugesprochen zu bekommen, führt eine Gemeinschaft in die Freiheit.
Aus Fehlern lernen:
Oft ging es in unserem Miteinander gar nicht um Schuld, sondern wir haben zusammen schlichtweg Mist gebaut. Wir waren einfach unachtsam, inkompetent und naiv. Und jetzt schauen wir hin und lernen aus diesen Fehlern. Aus Schaden wird man klug.
Gottes Güte im Scheitern erleben
Neben unserem Lernen ist es Gott selbst, der uns zu Hilfe kommt. Durch seine Gnade kann aus unserem Mist und aus unseren Miseren etwas Wundervolles wachsen. Es gibt ein wundervolles Beispiel in der Bibel von gemeinsamer Biografiearbeit, wo man sieht, wie Gott das Scheitern einer Familie gebraucht. Jakob ist gestorben. Seine Söhne gehen zu Joseph. Sie sprechen die Tragödien in ihrer Familiengeschichte an. Sie bitten Joseph um Vergebung. Und dann sagt Joseph: «Ihr zwar habt Böses gegen mich geplant, Gott aber hat es zum Guten gewendet, um zu tun, was jetzt zutage liegt: ein so zahlreiches Volk am Leben zu erhalten.»
Ein neues Kapitel schreiben
Wenn wir uns gemeinsam erinnern, dankbar werden, Frust und Fehler unserer gemeinsamen Wegstrecke bereinigen und in allem Gottes Güte zu sehen beginnen, setzt das für eine Gemeinschaft neue Kräfte frei. Das Ziel gemeinsamer Biografiearbeit besteht nicht nur darin, einfach nur die Vergangenheit besser zu verstehen. Wir wollen durch eine solche Arbeit nicht in der Vergangenheit schwelgen oder dem Verpassten nachhängen. Gelungene Biografiearbeit endet immer mit dem Blick nach vorn. Biografiearbeit ist ein Sprungbrett zur Zukunftsgestaltung. Der Prophet Jesaja blickt zu einem Zeitpunkt, wo das Volk Israel kollektiv seine Wunden leckt («an den Strömen Babylons sassen wir und weinten») und gleichzeitig daran ist, seine Vergangenheit zu verklären, zuversichtlich nach vorn. Gott spricht durch ihn: «Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht» (Jesaja 43. 18 -19).