Hilfe statt «es alleine schaffen»
Leider haben Familien in der Schweiz keine Lobby. Im Gegenteil. Vater- und Mutterschaftszeit wird romantisch als Urlaub betitelt und so kurz wie möglich gehalten. «Familie, das schafft doch jeder und am besten nebenbei und ohne Hilfe.» «Hilfe braucht nur, wer es nicht im Griff hat.» «Es funktioniert seit eh und je so, das wird doch wohl möglich sein».
Stimmt nicht! Die Individualisierung der Gesellschaft hat zwar die Möglichkeiten des Einzelnen hervorgehoben, zugleich aber auch positive Aspekte des Gemeinsamen verschwinden lassen. Familienmodelle und das Zusammenleben haben sich stark verändert. Wir alle wollen mehr persönliche Freiheit und geben damit auch ein grosses Stück der gesellschaftlichen Unterstützung ab.
von Anina Recher, Projektleitung wellcome SGh
Gestiegene Anforderungen an Familien
Die Anforderungen an Familien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm gesteigert. Wie noch nie zuvor haben wir Zugang zu Ratgebern, die uns erklären wie unsere Kinder gesund, glücklich, ausgeglichen, intelligent, klimaneutral und individuell aufwachsen. Wir wissen wie eine gute Ehe funktionieren soll, was ein gesunder Lifestyle ist und wie wir unsere beruflichen Erfolge weiter vorantreiben und uns nebenbei selberfinden und optimieren. Wir sehen die Bilder derer, die alles spielend unter einen Hut kriegen, und viele Frauen bemühen sich untereinander, dieses Bild auch aufrecht zu erhalten. Wie schnell können all diese eigenen und fremden Erwartungen zur Überforderung werden. Ein Kind zu bekommen ist nur bedingt planbar. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Mit wellcome wollen wir zum «es alleine schaffen» einen Gegentrend setzen.
Organisierte Nachbarschaftshilfe
Wir wünschen uns, dass Familien einen entspannten und freudigen Start ins Familienleben haben dürfen. Hilfe annehmen können, auch wenn es noch gar nicht brennt. Wir glauben, dass es Eltern, Kinder und die ganze Familie stärkt, wenn sie einen gelungenen Start haben. Wer Hilfe positiv erlebt, wird eher bereit sein, wieder einmal Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was früher durch Familien- oder Gesellschaftsstrukturen gegeben war, versuchen wir in neuer Form wieder in den Alltag von jungen Familien zu integrieren. wellcome könnte man also auch als organisierte Nachbarschaftshilfe bezeichnen. Die freiwilligen Mitarbeitenden entlasten Familien in den ersten Monaten nach der Geburt. Sie packen da an, wo es die Familie gerade braucht. Sie lassen die Mutter schlafen, gehen mit den Kindern spazieren, begleiten die Mutter und die Zwillinge zum Kinderarzt und vieles mehr. Wir wollen entlasten und bieten keine fachliche Unterstützung selbst an. Es ist uns aber wichtig, Familien mit den entsprechenden Fachpersonen zu vernetzen. In der Schweiz haben wir ein gutes Netz von Fachleuten. Wir wollen wo nötig auch Brücken zu solchen Angeboten schaffen.
Unterstützung aus Deutschland
Noch befinden wir uns in der Projektphase. Planen, einrichten, telefonieren, Schulungen per Zoom, Material erstellen. Vieles ist neu und muss aufgegleist werden. Doch wir profitieren enorm von dem Material und der Arbeit aus Deutschland. Es ist entlastend, das Rad nicht neu erfinden zu müssen. Vielleicht muss ich erstmal erklären, warum der grosse Kanton in Zusammenhang mit wellcome immer wieder zur Sprache kommt. wellcome gibt es seit über 15 Jahren, aktuell an über 220 Standorten. Die meisten davon in Deutschland, zwei in St. Gallen und neu auch in Österreich und Graubünden. Hinter jedem Standort steht eine Trägerschaft, welche als Social Franchisepartner von der wellcome gGmbH das Hilfsangebot in seiner Region anbietet. In unserem Fall sind wir als Stiftung die Trägerschaft für Graubünden. Das heisst konkret, wir dürfen das Konzept, das Angebot und die Marke von wellcome anbieten und umsetzen, es gehört uns aber nicht. Für uns hat diese Form der Zusammenarbeit den Vorteil, dass wir auf viel Erfahrung und Vorarbeit zurückgreifen können und das Rad nicht neu erfinden müssen. Bedeutet gleichzeitig aber auch, dass wir nicht die ganze Narrenfreiheit haben. Weil das Projekt nicht neu ist, wissen wir auch, dass es wirkt.
Herausforderung Corona
Corona macht die weitere Planung unsicher. Gerne wollen wir gegen Ende des ersten Semesters 2021 eine Kickoffveranstaltung machen. Ob und in welcher Form das möglich sein wird, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Wir werden aber darüber informieren, sobald wir genaueres wissen. Nicht nur wegen Corona habe ich in den vergangenen Wochen festgestellt, dass ich wohl meinen Beitrag zum Projekt wellcome beitragen kann, im Endeffekt aber nicht alles in der Hand habe. «Können wir Freiwillige motivieren, ihre Zeit für wellcome Familien einzusetzen?» «Sind Familien offen, Hilfe in Anspruch zu nehmen?» «Wie lange wird COVID uns auf Distanz halten?» «Finden wir genügend Netzwerkpartner, die das Projekt unterstützen und mittragen?»
Und ich muss eingestehen, es ist sogar gut so. Wir sind aufgefordert, unseren Beitrag zu leisten und dürfen von Gott auch seinen Teil erwarten. Ich staune nicht schlecht, wenn mich wieder ein Mail oder ein Anruf von Unbekannten erreicht, die sich gerne mit uns vernetzen und für uns werben möchten. Oder wenn eine Bekannte im Dorf eine Freiwillige vermittelt, bevor wir überhaupt schon richtig angefangen haben. Solche Erlebnisse motivieren mich, mein Bestes zu geben und die Rechnung immer mit Gott zu machen.