Meine digitale Bekehrung

Daniel Zindel, Gesamtleiter SGh reflektiert in der aktuellen Ausgabe "Aufatmen" seinen Weg in die "Digitalisierung" - ein authentischer und lebensnaher Beitrag.

Datum
6. September 2021

Lernen wir durch Druck und Drill? Im Zeitalter der „Schwarzen Pädagogik“ hat man den Zöglingen in Schule und Kirche die Lerninhalte aufs Auge gedrückt, im Notfall sie in sie hineingeprügelt, statt dass sie den Stoff selbst entdecken konnten. Können Sie und ich zum Lernen gezwungen werden?

Zunächst ist es unsere alltägliche Erfahrung, dass die langfristige Motivation zum Lernen mit Entdeckerfreude und Erfolgserlebnissen verbunden sein muss. Intrinsisch gesteuertes Lernen entsteht etwa, wenn man die „fruchtbaren Momente“ (Copei) im Schulalltag oder sonst im Leben ausnutzt. Ein Ferienaufenthalt in der Toskana etwa lockt uns, Italienisch zu lernen. Das Glücksgefühl, den Vögeln zuzuschauen, weckt in uns die Lust, ihre Namen kennen zu lernen. Es ist ein menschliches Urbedürfnis, sich durch „entdeckendes Lernen“ (Bruner) den Stoff selbst zu erschließen.

Jedes Kind und auch wir Erwachsene wollen im eigenen Rhythmus und unserer eigenen Art entsprechend unsere Begabungen und Talente entdecken und fördern. Darum müssen wir für uns selbst und andere alles daransetzen, dass eine attraktive Lernumgebung und eine optimale Lernatmosphäre entstehen.

Lernen durch Leidensdruck

Nicht immer jedoch lockt uns die Lust zum Lernen. Manchmal ist es auch ein Leidensdruck, der in uns einen Lernschub auslöst. Zuweilen zwingt uns die (Hoch)Schule des Lebens zum Lernen – der pädagogische Ansatz heißt dann: „Vogel friss oder stirb“. Mir ist das so während der Coronapandemie ergangen. Ich habe dabei ungeahnte Trouvaillen entdeckt, Glücksfunde.

Ich wurde Dank der Coronapandemie „zwangs-digitalisiert“ – soweit Digitalisierung bei mir überhaupt möglich ist. Denn ich bin ein haptischer, sinnlicher Mensch und war bis vor Kurzem allem Digitalen abhold. Ich arbeitete zum Leidwesen meiner Kollegen etwa immer noch aus Überzeugung mit einem Terminplaner aus Papier und verweigerte mich einer zentral gesteuerten Terminverwaltung.

Dann aber kam die Corona-Krise

Sie zwang mich über Nacht, meine Führungs-, Lehr- und Beratungstätigkeiten vornehmlich digital wahrzunehmen. Diese Veränderungen fanden unter Zwang statt – ich hatte keine andere Wahl. Plötzlich führten wir die meisten Meetings, Lehr-Einheiten und Beratungsgespräche digital durch. Am Anfang fühlte ich mich dabei oft unwohl und ohnmächtig. Aber ich wollte da hindurch und lernen, damit ich mir durch meine Widerstände nicht immer wieder selbst das Bein stellte.

Und tatsächlich: Ich habe durch die Krise gelernt, was ich ohne Krise nicht angepackt hätte. Was ist mein Lern-Erfolg?

1. Das Technische ist keine Hexerei

Mit etwas Beharrlichkeit kann man sich zu einem tauglichen User mausern und wird dabei sogar etwas unabhängiger von den IT–Hohepriestern. Wenn selbst mir das gelungen ist, werden Sie es mit Leichtigkeit erreichen.

2. Der digitale Weg erweitert unseren Wirkungskreis

In der Beratung von Paaren in Verantwortung etwa erweiterte sich unser Wirkungskreis schlagartig: Das Seelsorge-Ehepaar Zindel aus den Bergen Graubündens am Ende der Welt hinter dem Mond links sprach plötzlich mit Paaren in Berlin und Burkina Faso – und zum Teil hatten wir die Paare live noch nie gesehen.

3. Die Kommunikation wird anders

In der digitalen Beratung verändert sich die Wahrnehmung: Zuhören wird noch wichtiger als beobachten. Die Sprache wird absolut zentral (Wortwahl, Pausen). Eine neugierig–demütige Grundhaltung („ich weiß und verstehe es nicht“), bei der weniger intuitiv erfasst, aber mehr fragend nachgefasst wird, ist noch wichtiger.

Das digitale Arbeiten aus dem Lockdown heraus erinnerte mich an das Wirken des Apostels Paulus, der neben seinen Reisen seine Führungs-, Lehr- und Seelsorgetätigkeit durch seine Korrespondenz wahrnahm. Aus der Stille und dem Lockdown seiner Gefangenschaften heraus wirkte er mit höchster Konzentration und trug so zu einem wesentlichen Teil unserer Bibel bei.

4. Nähe und Tiefgang entstehen auch digital

Parallel zu den wachsenden technischen Fertigkeiten fand in mir ein Sinneswandel statt: Fruchtbares Wirken gibt es tatsächlich nicht nur aus einer persönlichen Begegnung heraus. Die Stärke der digitalen Distanz ist es ja, dass man konzentrierter, sachbezogener, globalisierter, ökonomischer und ökologischer unterwegs ist. Aber auch in einer digitalen Begegnung ist echte Begegnung möglich und es können auch dabei durchaus Nähe und spirituelle Tiefe entstehen. Zugleich bleiben sie unvollständig, nicht ganzheitlich, wohl wie beim digitalen Sex.

5. Zoomen zehrt aus

Das klingt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zum Gesagten, soll jedoch nur ein Spannungsfeld aufzeigen: Ich habe den Eindruck, dass digitale Begegnungen einerseits sehr leicht zu bekommen sind, dass man andererseits aber auch wieder sehr schnell wegzappen kann.

Ich selbst brauche zudem für digitales Arbeiten mit Menschen mehr Kraft. Insbesondere bei der Leitung der Meetings – oder fehlen mir einfach noch die nötigen Moderations-Tools? Ob die schnellere Ermüdung mit den gestiegenen Anforderungen in Bezug auf die oben erwähnte Sprachrezeption („hören“) oder Sprachreproduktion („reden“) zu tun hat? Gibt es beim digitalen Arbeiten weniger natürliche Regeneration, weil das Feedback („im Gegenzug auch mit Nahrung versorgen“) des Gegenübers schwächer und diffuser ist? Oder hat es damit zu tun, dass uns Vor- und Nachbearbeitungszeiten des Reisens fehlen und es keine Übergänge räumlicher und zeitlicher Art gibt?

Ob darum mit dem Digitalisierungsschub nicht auch ein Schub achtsamer und sorgfältiger Arbeitstechnik und Lebensführung verbunden sein müsste? Etwa bewusste Pausen. Kurze Verarbeitungszeiten. Moderne Formen von „ora et labora“. Je mehr wir unser Leben vor dem Flatscreen verbringen, desto intensiver brauchen wir als Ausgleich Ausflüge in die analoge und spirituelle Welt – sonst verflachen wir selbst und unsere Beziehungen.

Lernen durch Leidensdruck

Ich habe mir die oben erwähnten Lektionen nicht ausgesucht. Ich hatte wirklich keine Lust dazu! Aber manchmal gibt es keine konstruktive Alternative – als: seinen Weg nach vorne durch Lernen frei zu machen. Leben heißt lernen.

Christian Morgenstern hat den Satz geprägt: „Ein tiefdemütig lebenslanges Lernen“. Wenn Sie vor ähnlichen (Lern)Herausforderungen stehen, denken Sie daran, dass wir manchmal „unter Tränen säen, aber mit Freuden ernten“ (Ps 126,5).

Machen Sie sich auch bewusst: Beim Lernen unter (Anfangs)Zwang ist es wie bei der Appetitlosigkeit: Der Appetit kommt mit dem Essen. Wählen Sie – wozu Sie keine andere Wahl haben! Dann sind Sie selbstwirksam und nicht Opfer der Umstände.

Zudem: Bitten Sie Gott, dass er Ihren Willen zum Lernen stärkt. Das macht er gerne, denn „Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt“ (Phil 2,13).

Und schließlich: Vergessen Sie nie, dass Sie beim Lernen Ihrer Lebenslektionen in guter, ja, der allerbesten Gesellschaft sind. Der Autor des Hebräerbriefes portraitiert den Rabbi von
Nazareth als Lernenden. Sogar Jesus musste seine Lektion durchbuchstabieren: „Und obwohl er Sohn war, hat er doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt“ (Hebr 5,7).